Was macht denn der VDSt in Kenia?
Nach einem kurzen Moment in absoluter Ruhe und Unbeweglichkeit setzt das Rauschen der Triebwerke ein und neben mir werden die Köpfe meiner Bundesbrüder in den Sitz gedrückt, als das Flugzeug der Kenyan Airways auf dem Rollfeld des Flughafen Berlin-Tegel vehement an Fahrt aufnimmt. Nach kurzen Turbulenzen und dem Gewinnen an Flughöhe setzen alle wieder ihr gewohntes Gesicht auf, als uns das Essen serviert wird: Seelachs mit Gemüse und als Dessert ein kleines bisschen Joghurt. Ungewöhnlich lecker für Flugzeugessen. Genauso ungewöhnlich, wie die Umstände, die uns in diese Maschine gebracht haben. Wie man den Lebensbund innerhalb des VDSt gestaltet, liegt, abgesehen vom monatlichen Beitrag, bei jedem Bundesbruder selbst. Doch zur letzten Verbandstagung in Dresden gelang es unserem Alten Herren Jörn Schwarzer, eine schlichtweg atemberaubende neue Auslegung dafür zu finden.
WARUM NICHT MAL NACH AFRIKA?
Getrieben von der Idee, sich eine neu herangewachsene Generation von Aktiven – wie wir annahmen, älteren und unserer Vorstellung nach antiquierten – nicht nur geographisch näher zu bringen, beschloss er, unsere Jungburschen sowie den alten und den neuen Fuxmajor an den Ort seines Schaffens einzuladen. Die Idee, für sich genommen schon mehr als verlockend, wurde dann jedoch noch versüßt, als man sich bewusst wurde, dass dies einen Ausflug an die tropischen Küstenregionen von Kenia bedeutete. So begab es sich, dass Ende August sechs Dresdner in Tegel eine Reise begannen, die sie am Ende nach Malindi führen sollte, eine Stadt rund 120 Kilometer nördlich von Mombasa an der Küste des Indischen Ozeans. Für alle Leser, die wie ich ihre Berufung nicht in der Geographie gefunden haben, gibt es viel Interessantes über Kenia zu erfahren. Früher eine Kolonie des Vereinigten Königreiches ist das Land heute, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, das stärkste in Zentral- und Südostafrika. Dies ergibt sich jedoch aus einer stark wachsenden Bevölkerung, so dass unterdem Strich das Einkommen nicht viel rosiger wirkt als in anderen Teilen Afrikas.
AUFSTREBENDER STAAT
Nur knapp unter dem Äquator und unmittelbar am Indischen Ozean gelegen, erwartete uns ein Klima, für das „tropisch“ schon nach einem Euphemismus klingt: In der Küstenregion fallen die Monatstemperaturen nur selten unter 20 Grad und die Luftfeuchtigkeit kann sich in der Trockenperiode mit mehr als siebzig Prozent ebenfalls sehen lassen. Doch genug zu dem, was jeder nach zwei Minuten Recherche herausfinden kann, denn deutlich lebhafter waren unsere Erfahrungen.
WÄRME – UND VIEL DAVON
Schon kurz nach unserer Ankunft in Mombasa wurde uns bewusst, dass sich das hier Erlebte deutlich von dem unterscheiden würde, was wir aus unserer kleinen Welt in Deutschland kannten. Kenia ist zeit seiner Unabhängigkeit ein Entwicklungsland. Die wahre Bedeutung dieses Wortes wurde uns aber erst bewusst, als wir den Flughafen – endlich mit dem Alten Herren Jörn Schwarzer vereint – verließen. Schon wenige Minuten nach Aufbruch Richtung Malindi, unserem eigentlichen Ziel, wurden wir zum ersten Mal vom Militär von der Straße gewunken. Nach einer kurzen Kontrolle der Reisepässe und des Fahrzeuges ging es dann schon wieder weiter. Ziel des Ganzen? Ein kleiner Obolus, für den freundlichen Mann mit dem Sturmgewehr. Sei es, um nicht für zehn Minuten kontrolliert zu werden, oder um Ärger mit den Behörden zu entgehen. Der Wille, sich was dazu zu verdienen, war oft gegeben. Kein Wunder also, dass dieser Vorgang keine Seltenheit war, sobald man ein Fahrzeug bestieg. Die nächste Besonderheit war der Verkehr. In Deutschland präzise reguliert durch Regeln und Ordnungsgelder, wirkte der Verkehr in Mombasa wie eine Gefühlssache. Die einzige offensichtliche Begrenzung waren Geschwindigkeitshügel, die dem Fahrer keine andere Wahl lassen, als seine Geschwindigkeit anzupassen. Dazu kamen diverse Fahrzeuge, wie man sie in Asien erwartet hätte. Unzählige Motorräder, Tuk-Tuks und Vehikel, deren Verkehrszulassungen sich augenscheinlich nur durch Hartgeld für den entsprechenden Beamten erklären ließen. Das Ergebnis war eine zähe Masse aus Fahrzeugen, deren Vorankommen nur durch die Größe eben jener bestimmt wurde. Nichtsdestotrotz war es aber zu fast jeder Zeit ersichtlich, dass die Fahrer deswegen nicht weniger unaufmerksam oder rücksichtsloser fuhren als in Deutschland, wenn auch begleitet von einem sehr kreativen Einsatz der zur Verfügung stehenden optischen und akustischen Mittel. Der Blick aus dem Fenster bot dabei aber nicht weniger kuriose Szenen: Noch mitten in der Stadt konnten wir den ideenreichen Umgang mit Müll kennenlernen. Ungeachtet der zentralen Lage oder der Schadstoffe wurde hier in großem Maßstab Abfall verbrannt. Eine logische Konsequenz aus der Tatsache, dass eine deutsche Tugend wie Mülltrennung hier noch keinen Einzug gehalten hatte.
ANDERE WELTEN
Auch wenn große Teile der Stadt mit Häusern, Märkten und geschlossenen Gesellschaften hinter hohen Mauern gefüllt waren, mussten wir dennoch schnell erleben, dass noch nicht jeder sich das gute Leben leisten konnte. Enorme Wellblechburgen bahnten sich ihren Weg durch die Stadt und machten einem erneut bewusst, dass es noch einige Zeit dauern würde, bis das Leben in Kenia europäische Standards erreicht. Wesentlich geordneter wirkte dagegen die ländliche Region. Zwischen Landwirtschaft und Tierherden standen hier noch Lehmhütten, und trotz der Fernverkehrsstraße am Dorfbrunnen vorbei hatte man das Gefühl, dass einige der letzten hundert Jahre spurlos an dem Land vorbeigezogen waren.
SCHATTENSEITEN DER TOURISMUSINDUSTRIE
Die Zeit in Malindi jedoch sollte unser Bild von Kenia dauerhaft verändern. Seit den Siebzigern durch einen Flughafen ergänzt, nahm die Stadt als italienisches Reiseziel stark an Bedeutung zu und entwickelte sich bis Mitte der Zweitausender zu einer touristischen Hochburg. Die Folgen kennt man nur allzu gut aus anderen Kommunen, deren einzige Einkommensquelle der Tourismus ist. Es wurden diverse Ressorts, Strand-Bars und Märkte eröffnet, und die Touristen wurden zu einem ständigen, (nicht immer) willkommenen Einkommensfluss. Denn leider gab es auch hier Komplikationen. Geringe Stundenlöhne und eine vergleichsweise schwache Währung machten die Kenianer zu perfekten Arbeitnehmern. Im Gegenzug fehlten jedoch oft die Mittel, um die Geschäfte selbst in die Hand zu nehmen, und so sind noch heute die meisten Geschäfte in der Hand von Italienern. Das größere Problem jedoch sind Aggressionen durch die somalische Terrormiliz Al-Shabaab. Seit 1998 erschüttern Angriffe das Land. Die Ziele sind dabei oftmals ziviler Natur. So wurden in den vergangenen zehn Jahren Anschläge auf Ressorts, Einkaufscenter und sogar Universitäten verübt. Nicht selten mit Opferzahlen im hohen zweistelligen Bereich. Auch wenn sich die Bevölkerung weitestgehend unbeeindruckt zeigte, abgesehen von mehr Sicherheitsbeamten an fast allen öffentlichen Stellen, war die Wirkung für den Tourismus katastrophal. Seit 2013 nahm die Anzahl der Besucher aus dem Ausland ab und kleine Städte wie Malindi kamen in eine finanzielle Notlage. Wo früher Kellner, Fahrer und Verkäufer gebraucht wurden, gibt es nun keine Arbeit mehr, und die Bewohner von Malindi mussten sich nach anderen Einkommensquellen umsehen.
RUHE UNTER DER TROPISCHEN SONNE
Diese Entwicklung sollte das Bild formen, das wir zu Gesicht bekamen. Zumindest an der Oberfläche hätte man es sich unterschiedlicher nicht vorstellen können. Wie in den meisten ostafrikanischen Ländern ist die Landessprache auch hier Swahili. Diese brachte ein Wort hervor, dass das Leben in Kenia augenscheinlich bestimmte: „polepole“. Übersetzt in unsere Sprache bedeutet es so viel wie „langsam, langsam“ und schien für viele Kenianer gleich einem Mantra, nach dem es sein Leben auszurichten galt. Durch das erwähnte Klima bedingt war es natürlich klar, dass es am Tag Zeiten gibt, an denen man besser im Schatten verweilen sollte. Gleichwohl wirkte es so, als würde der Werdegang Zahlreicher davon abhängig gemacht. Nach Absolvieren der achtjährigen Grundschule steht es jedem offen, sich weiterzubilden oder in einen Beruf einzusteigen. In der Praxis jedoch gestaltet sich dies oftmals schwieriger, da weiterführende Schul- und Studiengebühren finanziell nur schwierig zu tragen sind. Dies gekoppelt mit einem harten Arbeitsmarkt, der im Jahr ‚““* stolze vierzig Prozent Arbeitslosigkeit zu beklagen hatte, führt bei vielen schon im jungen Alter zu einer Perspektivlosigkeit und Resignation, die für uns nur schwer nachvollziehbar waren. In Malindi äußerte sich dies so stark, dass viele dutzende Anwohner versuchten, auf jede nur erdenkliche Art und Weise Geld von den Besuchern aus dem fernen Europa zu bekommen. Sei es durch das Anbieten als Tourguide, den Verkauf von billig importierten Souvenirs oder durch klassisches Betteln. Erst bei Nacht in den Strandclubs von Malindi jedoch ergab sich für uns das ganze Bild. Wer am Tag kein Geld verdienen wollte, tat dies eben nach Sonnenuntergang und so waren „Pärchen“ verschiedener Hautfarbe und zumeist mit einem nicht unerheblichen Altersunterschied schnell ein gewohnter Anblick. Scheinbar schien dies auch kein Tabu darzustellen, so erzählte mir an einem Abend stolz eine Studentin, sie habe einen reichen Niederländer geheiratet, um ihr Studium zu finanzieren. Angehörige der oberen Mittelklasse können es sich leisten, ihren Kindern einen langen Bildungsweg zu ermöglichen und mit ausreichenden Kontakten sogar eine gute Anstellung zu verschaffen.
LAND DER GEGENSÄTZE, LAND DER VIELFALT
Für die Ärmeren hingegen scheint es unmöglich, aus dem Kreis auszubrechen, und es entsteht der Zwang, auf eben jene Mittel zurückzugreifen. Ein „Land der Chancen“, wie wir es aus Deutschland kennen, war in Kenia noch ferne Zukunft. Nichtsdestotrotz konnten wir fast allerorts ein skurriles Phänomen beobachten: Ungeachtet des Einkommens hatten viele neuere und vor allem teurere Smartphones als die deutschen Studenten. Eine beachtliche Tatsache, wenn immer noch mehr als fünfzig Prozent der Kenianer unterhalb der Armutsgrenze leben. Der Grund dafür war auch nicht etwa im Preis zu finden. Die Preise lagen in einem sehr westlichen Rahmen, und Provider gab es sogar nur einen. Die Gründe dafür wurden erst später ersichtlich. Zum einen gibt es in Kenia ein sehr fortschrittliches elektronisches Bezahlsystem, das es ermöglicht, bequem mit Hilfe des Smartphones zu zahlen. Bedingt durch das lokal begrenzte Leben nimmt aber auch der Wunsch nach Vernetzung mit der restlichen Welt stark an Bedeutung zu.
KENIA IM WANDEL: DIE WAHL
Deutlich bedeutender hingegen waren die Wahlen, die am *. August dieses Jahres stattfanden. Nervös betrachteten wir die Wahl schon aus der Ferne: Bereits zuvor war es im Nachgang der Wahlen zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen. So zum Beispiel vor zehn Jahren, als bei den Protesten mehr als #“““ Menschen starben. Umso überraschender war eine Szene, die sich uns knapp einen Monat nach der Wahl darbot. Fahrzeuge standen von Menschen umringt am Straßenrand und übertrugen eine Pressemitteilung aus Nairobi. Der Inhalt: Nach umfassenden Untersuchungen erklärte das Oberste Gericht die Wahl von Präsident Kenyatta wegen Unregelmäßigkeiten für ungültig und kündigte im gleichen Atemzug Neuwahlen innerhalb der nächsten beiden Monate an. Die Tragweite dieser Entscheidung wurde uns schnell und überglücklich von unserem Fahrer erklärt: Noch nie zuvor war etwas Derartiges im Osten Afrikas vorgekommen. Auch wenn eine neue Wahl wieder mit neuen Problemen verbunden ist, wirkte dies doch für uns, als wären wir Zeugen eines historischen Moments geworden.
DIE SÜDLICHSTE KNEIPE DES VERBANDES
Von allen Erfahrungen zu berichten, das würde diesen Rahmen sprengen. Doch ein Ereignis darf nicht unerwähnt bleiben: Die wahrscheinlich südlichste Kneipe des Verbandes. Wenn auch nur mit gemischten Reaktionen all derer, die uns singen hörten, lebte an diesem Abend unter sieben Bundesbrüdern, sieben Grad südlich des Äquators, die studentische Tradition voll auf.
ERFAHRUNGEN FÜRS LEBEN GEWONNEN
Nach einer Woche in den Tropen war es dann aber auch schon wieder Zeit für den langen Weg nach Dresden, und überwältigt von Erfahrungen machten wir uns auf den Weg nach Mombasa. Mitten in der Nacht verließ der Airbus die Startbahn, und während unsere Körper auf gewohnte Weise in den Sitz gedrückt wurden, verließen wir Meter um Meter dieses so unbeschreibliche Land. Bei dem Blick aus dem Fenster sah man, wie sich Mombasa unter uns erstreckte und immer weiter in die Ferne rückte. In diesem Moment wurde uns unsere Perspektive spöttisch vor Augen gehalten: Wir konnten Kenia kennenlernen und sehen, doch um es zu verstehen, konnten wir nicht lange genug hinschauen. Und noch während das Essen serviert wurde, sannen wir darüber nach, ob wir je zu diesem Flecken Erde mit allen seinen Kuriositäten und Besonderheiten, mit allen seinen Vor- und Nachteilen zurückkehren würden. In jedem Fall lag aber eine fantastische und lehrreiche Woche hinter uns.